Osloer Euphorien
 
von Christina Morhardt

Als ich meinen Koffer durch das Treppenhaus in den ersten Stock hinaufschleppte roch es dort unerwartet nach Stroh, nach Tieren, nach altem Holz, Kalk und kalten Steinen. Es roch genau so wie damals in der Scheune des Bauernhofs meiner Grosseltern, nur war das hier absolut kein Bauernhof, sondern ein dreistöckiges Wohnhaus aus roten und weissen Klinkern im Zentrum von Oslo.
Ich bin bis heute nicht ganz dahinter gekommen, warum es dort so riecht.
Irgendwann fand ich ein Buch mit Fotos von Oslo um 1900. Die Häuser im Zentrum, in Tøyen und Grünerløkka hatten damals oft kleine Stallungen mit Hühnern oder Ziegen im Hinterhof.

In der Wohnung roch es angenehm. Überall war Holz.
Holzfussboden, Holzregale, Holztisch, Holzstühle, Holzschränke, Brennholzstapel und ein Holzofen der neuen Generation. Einer, der die Holzscheite doppelt verbrennt und somit für mehr Wärme und weniger Schadstoffe sorgt; praktisch so gut wie keine. Solche Öfen sind in der Lage, eine 100 qm Wohnung im Winter zu beheizen. Diese hier hatte etwa 50 qm.

Der Gasherd stammte aus einer ehemaligen Grossküche und besass vier Kochfelder. Diese hatten einen solchen Durchmesser, dass der kleine Eiertopf beim Frühstück fast immer zum Glühen kam. An der Decke darüber hing eine stählerne Abzugshaube. An der Wand darunter und an den Rändern der Abzugshaube hingen gusseiserne Pfannen und viel Küchengeschirr.
Die Messer waren an einer Magnetschiene links neben dem Herd an der Wand befestigt. Zehn lange Küchenmesser klemmten dort senkrecht. Ein japanisches Hōchō war auch dabei. 

Dann ein Pizzaofen aus einer ehemaligen Pizzeria. Er nahm in seiner Grösse fast den gesamten Raum unter der Küchenzeile rechts vom Gasherd ein, aber wir konnten ihn nie nutzen weil eine Steinplatte innendrin kaputt war. Er sass unter einer italienischen Kaffeemaschine.
Die Maschine war enorm laut in ihrer Aufwärmphase, brauchte dafür etwa zehn Minuten und machte sehr guten Espresso aus Bohnen, die aus einer Tüte für Grossverbraucher kamen, welche im Schrank obendrüber verstaut war, neben rollenförmigen Teedosen.
Riesige Reis- und Nudelpackungen standen in den ausziehbaren Schränken unter der stählernen Arbeitsplatte, neben unzähligen Konserven, Mehltüten, Zucker und grossen Gewürzpackungen.
Einmal verbrachten wir einen Abend damit, Löcher mit einem Forstnerbohrer in die schwarzen MDF-Küchenschrankwände und Schubladen zu bohren, denn sie hatten keine Griffe und es war sehr mühsam, sie jedesmal mit dem Finger aus dem schmalen Spalt zwischen der Arbeitsplatte  herauszuziehen. Mein Job bei dieser Aktion war das Anstreichen der 12 Millimeter tiefen Löcher. Dafür besorgten wir Sprühlack, weil es Streichlack nur in Dosen von einem Liter zu kaufen gab. Ich sprühte den Lack zum Streichen mehrmals in ein leeres Gurkenglas und bekam davon einen schwarzen Zeigefinger.

Ein Gerät, was ich vorher noch nie gesehen hatte, war der Konvektomat von Gaggenau.

Er sass rechts oberhalb der Spüle. Ein Spitzengerät! Es gart Gemüse oder Reis, es wärmt Tiefgefrorenes auf, es kann backen, und das alles mit Wasserdampf. Es funktioniert wie eine Sauna. Das Gerät heizt sich innerhalb von Sekunden auf und ist unvergleichbar mit der asozialen Mikrowelle oder dem einfachen Wassertopf.

In der Wohnküche gab es zwei Fenster mit Oberlichtern. Sie waren doppelt verglast, was gut gegen den Strassenlärm nutzte. Was den Strassenlärm wieder hineinbrachte, war das Rohr der Abzugshaube über dem Gasherd, das an der Aussenwand nach draussen ging. Es war nicht schallgedämmt, deshalb wirkte es wie ein Sprachrohr.
Über dem Fenster neben dem grauen Sofa baumelte ein silberner Weihnachtsstern an einer Schnur, der verfing sich jedes Mal beim Schliessen zwischen dem Fensterrahmen, immer wenn wir rauchten, denn wir rauchten am offenen Fenster, quetschten uns dabei auf die kleine Fensterbank. Irgendwann fiel der Stern mal ab.

Neben der Kaffeebohnenmahlmaschine stand ein kleines Radio. An Vormittagen unter der Woche schaltete ich manchmal die Nachrichten an, aber ich verstand eigentlich nichts. In Berlin hatte ich mir einen Anfängersprachkurs für Norwegisch als Buch mit zwei Hör-CDs besorgt, aber das war irgendwie langweilig.
Mit der Zeitung ging es etwas besser. Jeden Morgen lag die Klassekampen vor der Tür. Ganze Sätze oder gar Artikel konnte ich selten ohne fremde Hilfe lesen, aber die Werbung konnte ich meistens verstehen. Mein erstes Wort war toalettpapir.

Gegenüber der Küchenzeile stand das Sofa, ein kleiner Couchtisch und eine Stereoanlage mit Plattenspieler. Platten gab es so etwa dreihundert.

 

Das Cover vom vierten Shellac Album Excellent Italian Greyhound war besonders schön. Steve Albini schmiss 2007 eine nackte und unbeschriftete CD-Kopie der analogen Aufnahmen mit in das Doppelalbum hinein.

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69 Lovesongs von The Magnetic Fields gab es zu hören. Chain Gang of Love und Whip it on von The Raveonettes. Das letzte Album von Talk Talk, Laughing Stock. Soldier of Love von Sade, The Köln Concert von Keith Jarrett. Spiderland von Slint, die ich aus den 1990ern kannte, auch Low mit Secret Name aus den USA. Low hatte ich 2000 einmal live gesehn, im legendären Dreikönigskeller in Frankfurt.
Ich habe in den ersten Wochen hier viel norwegische Musik kennengelernt.
Single Unit mit dem Album Family of Forces. Das ist von heute und klingt ein bisschen wie Aphex Twin. Auch Svalastog hat mich daran erinnert, mit den Alben Silencer und Woodwork. Seine Stücke sind aber langsamer und vielleicht eher so, wie die ruhigen Sachen von Autechre.

Fever Ray ist wie Svalastog ein Soloprojekt, aber von Karin Dreijer Andersson, eine Schwedin. Ihr düsterer Indie klingt irgendwie metallisch.
Sidsel Endresen kommt aus Trondheim und singt Jazz. So I write heisst eines ihrer Alben, und ihr Gesang erinnerte mich ein bisschen an Joanna Newsom, aber die Stimme ist heiserer.
Trygve Seim ist ein genialer und sehr sympathischer Saxophonist. Auf den Alben Purcor und Different Rivers habe ich ihn gehört. Er ist immer unterwegs und hat den längsten Bart, den ich je gesehen habe. Vor seiner Garage in Oslo steht eine kleine Sauna, in der ich einmal sass.

Der Kühlschrank von Siemens hatte ein externes Eisfach, was voll mit Meeresfrüchten und Wildfleisch war. Einmal assen wir Tauben. Sehr klein und sehr lecker.
Auf dem Kühlschrank war ein Wok mit eigenem elektrischen Kochfeld verstaut. Beides zusammen wog etwa zehn Kilo und konnte sehr schnell extrem heiss werden. Leider fiel fast immer der Strom in dem Gerät aus.
Nah am Fenster vor der Küchenzeile hing eine schwarze Industrielampe aus den 1920er Jahren von der Decke, mit einem Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern. Solche Lampen sind in der Lage, Räume zu erhellen, die etwa drei Mal so gross und hoch waren wie diese ganze Wohnung hier. Aber es gab einen Dimmer.

An der Wand hinter dem Sofa stapelten sich Bücher und DVDs, etwa fünfhundert, in einem Regal aus Tischlerplatte untergebracht. Zuerst schaute ich mir ein paar schwedische Filme an.

 

Von Ruben Östlund De ofrivilliga und Gitarrmongot.
Es macht viel Spass, diese Filme anzusehen, denn sie erzählen von Freiheit, Neurotikern und alltäglichem Blödsinn. Es sind beides keine Spielfilme, in denen eine durchgehende Geschichte erzählt wird. Es sind Filme in Spielfilmlänge, die aus kurzen Szenen bestehen, die wie Metaphern wirken. Es ist, als würde jemand über die Schweden schreiben. Darüber, wie sie denken, welchen Humor sie haben, welche Phantasien sie haben und was sie so tun. Oder vielleicht auch nur davon träumen, es zu tun.
Roy Andersson erzählt in seinen Filmen ähnlich. Sånger från andra våningen und Du levande waren zwei, die ich gesehen habe. Er hat früher viele Kurzfilme gemacht. Eine lange Reihe von Commercials gibt es, darunter auch einige lustige zum Thema AIDS.
Einen besonderen Vampirfilm habe ich noch gesehen, von Tomas Alfredson. Er erzählt eine Geschichte von einem Jungen und einem Mädchen, die zufällig im gleichen Haus wohnen und sich im Winter auf der Strasse kennenlernen. Låt den rätte komma in hat sehr schöne Bilder, eine traumhafte Stimmung und Poesie. Die Geschichte wirkt so, als würde sie in dem verschneiten Wohnblock in Stockholm gerade passieren. Es gibt wohl ein amerikanisches Remake von dem Film, aber das soll ziemlich überflüssig sein.

Weil der Holzofen so gut heizte, sass ich oft bei Minusgraden in Bademantel und Filzpantoffeln auf der Fensterbank und schaute nach draussen. 

Im Erdgeschoss des Hauses gegenüber war ein fotografbyrå, was Werbung machte für små mennesker, also für kleine Menschen. Der Chef sass oft bis spät in die Nacht am Rechner, trank Tee und rauchte. Im ersten Stock hatte eine Malerin ihr Atelier. Ich sah sie manchmal tagsüber, aber immer nur von hinten, wenn sie am Tisch hinter dem Fenster sass. Sie war blond und hatte lange Haare.
Man sieht in Oslo nachmittags viele Leute auf der Strasse, die mit Langlaufskiern auf den Schultern durch die Stadt gehen. Nach der Arbeit fahren sie mit der Strassenbahn zwanzig Minuten raus aus dem Zentrum. Eine wunderbar verschneite Landschaft gibt es da, in den Bergen um die Stadt herum. Die Loipen sind bis 23.00 Uhr beleuchtet, und tagsüber gibt es Gaststätten, in die man einkehren kann.

Unter dem Hintern wärmte mich beim Zuschauen eine kleine Elektroheizung auf. Sie war beinah unsichtbar, weil sie an der Wand unter dem Fenster hing, das Sofa direkt davor stand, und sie war für das nahezu nackig am Fenster Sitzen sehr praktisch. Sie lief bis mitte Mai pausenlos.
Die Kilowattstunde kostet in Norwegen etwa ein Zehntel von dem, was man in Deutschland dafür bezahlt, deshalb ist dort auch keiner pingelig mit sowas. Manchmal liefen die Waschmaschine und die beiden Spülmaschinen zwei Mal am Tag. Es gab zwei Spülmaschinen.
Darüber hinaus ist es in den Gebäuden der Stadt, ob privat oder öffentlich, immer sehr warm und oft auch beleuchtet, Tag und Nacht. Es wird hier sogar der Hauptbahnhof im Winter beheizt. 

Jeden Tag lagen neue Asche vom Holzofen und viele kleine Wollmäuse von den ganzen Socken, Pullovern, Filzpantoffeln und Decken auf dem Fussboden. Vielleicht hätte eine Ehefrau in der Wohnung auch jeden Tag geputzt und gekehrt, aber die gab es hier nicht.
Es wohnte hier ein Mann mit seiner sechzehnjährigen Tochter, die zwei Wochen im Monat bei ihrer Mutter, und zwei Wochen im Monat bei ihrem Vater wohnte. Die Mutter und der Vater waren seit zehn Jahren kein Paar mehr.
Die Tochter hatte in der Wohnung ihres Vaters ein kleines Zimmer. Das nahm sie aber nicht mehr in Anspruch, sobald ich Anfang März dort einzog, denn sie war schon vor meiner Ankunft stinksauer über die blitzartige und kompromisslose Entscheidung ihres Vaters.
Aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich hatte ihn an Silvester auf der Tanzfläche einer Party in Berlin kennengelernt. Danach waren wir eine Woche lang jeden Tag zusammen. Er war 45 und er befiel mich mit einer ausserordentlichen Euphorie. Er sprach von unseren Pheromonen, die so gut zueinander passen würden und vernarrte sich sofort in meinen Körpergeruch. Dann wollte er ein Kind mit mir haben und gleich auch noch mit mir zusammen wohnen. Ein solches Selbstbewusstsein hatte ich bei einem Mann noch nie erlebt. Oder war es das gar nicht?
Manchmal ging es mir ein bisschen auf die Nerven, wenn er ständig davon erzählte, wie schön sein Leben war. Aber warum sollte ich nicht mein viel weniger schönes gegen ein Solches zu zweit eintauschen?

Er leitete eine Bibliothek in Oslo und hatte eine Tochter. Daher war klar, dass ich mich bewegen sollte. Mitte Januar machte ich einen kurzen Schnupperbesuch, den ich, weil ich so verknallt war, um eine Woche länger ausdehnte. Danach skypten und smsten wir jeden Tag; es war kaum auszuhalten.
Meine Wohnung in Berlin wollte ich auf keinen Fall aufgeben, aber ich packte schliesslich drei grosse Koffer und flog in Begleitung meines neuen Freundes am dritten März nach Oslo.

 

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