Was können ukrainische Frauen von tunesischen Frauen lernen? 

   
 Ein Gespräch mit Eva Schmidt über Darstellungsformen feministischen Protests 
 
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Deluge: Eva, was können ukrainische Frauen von tunesischen Frauen lernen?

Eva Schmidt: Damit spielst Du natürlich auf Femen an und die ganze Auseinandersetzung um die Frage, wie man jetzt Amina Sboui (die tunesische Femen-Aktivistin) unterstützen kann und wie nicht. Aber so ist die Frage natürlich perfide. Da stellst Du mich in die Position der weißen Wissenschaftlerin, um jetzt mal ganz objektiv zu sagen, was die Frauen in ihrem Kampf so falsch machen und damit in eine ignorante Machtposition aus der heraus feministische Solidarität unmöglich ist. Das ist meiner Meinung nach auch was aus dieser Sache allgemein gelernt werden kann. Die Schwierigkeit, wie man aus unterschiedlichen Positionierungen und Perspektiven miteinander solidarisch sein kann, ohne zu vereinnahmen und unter Berücksichtigung der herrschenden Machtverhältnisse. 

Femen hat ja in der Ukraine seinen Sinn und seinen Ursprung im Protest gegen Zwangsprostitution in einer konservativen Gesellschaft. Also um die Scheinheiligkeit aufzuzeigen, dass man von nacktem Protest schockiert ist, dabei ist Zwangsprostitution überall. Auch, Nacktheit als schockierend, wenn nicht zum Konsum bereit gestellt. Aminas Protest in Tunesien hat allerdings einen anderen Hintergrund. Dort war die Nacktheit Protest gegen die Fremdkontrolle weiblicher Körper: „Mein Körper ist nicht die Quelle von irgendjemandes Ehre.“

Also auf den ersten Blick eine ähnliche Protestform und natürlich eindeutige Referenz an Femen, aber es ist dennoch nicht das gleiche, sondern Übersetzung. 

 

Amina hat also nicht von Ukrainerinnen gelernt oder imitiert, sondern übersetzt und transformiert. Die Anknüpfungspunkte könnten jetzt Solidarität erzeugen, aber da ist dann das Problem, dass diese Übersetzungsarbeit ignoriert wird. Am meisten ja meiner Meinung nach von den Westeuropäerinnen. Jedenfalls sehe ich keine wirklich sinnvolle Lesart von Femen hier in Deutschland. Wenn also etwas zu lernen ist, dann: Kontext ist wichtig. Übersetzungsarbeit ist zum ersten von Anwendern zu leisten, aber auch von den Beobachtern. Nur weil es vielleicht formal eine gleiche Praxis ist, hat es noch lange nicht die gleiche Bedeutung. Wenn man die eigene Position und Kontextbezogenheit ignoriert und Übersetzungsarbeit nicht nachvollzieht ist eine sinnvolle Solidarität nicht möglich. Amina hat sich ja dann auch von Femen distanziert, weil es ihr zu islamophob und kolonialistisch wurde.

Die Tunesier und Tunesierinnen diskutieren zudem selbst wie sie das ganze interpretieren sollen.  „Die Tunesierinnen“ von denen irgendwer lernen könnte gibt’s also gar nicht. Es gibt bürgerliche Feministinnen die aus der linken Studentenbewegung hervor gingen.  Manche von ihnen sahen ihre eigene Arbeit durch Nacktprotest gefährdet, weil sie eh schon als „verwestlicht“ hingestellt werden und das mit amoralisch gleichgesetzt wird. Gleichzeitig betonen sie natürlich Meinungsfreiheit und zeigen sich solidarisch mit einer Frau, die grundsätzlich auf der gleichen Seite steht.

Deluge: Und was hat das jetzt mit Amanda Todd zu tun?

 

 

 

Eva Schmidt: Wer ist Amanda Todd?

Deluge: Amanda Todd war eine kanadische Schülerin, die im Chat mit einem Fremden ihren Busen zeigte und der nahm das heimlich auf und erpresste sie und das Foto verfolgte sie überall, sie wurde gemobbt und hat sich dann schließlich das Leben genommen. Da komme ich jetzt drauf wegen Konsum, sozusagen: Vergleich: 18-jährige Tunesierin, die das Bild ihres entblößten Körpers politisch nutzt und 12-jährige Kanadierin, die, bzw. deren Umfeld, das Warenangebot ihrer Markierungen und deren Verwertung nicht als politisch erkennen kann.

Eva Schmidt: Ich halte die Bilder nicht für so ähnlich, aber ich weiß natürlich nicht viel über die Hintergrundgeschichte dieses Mädchens und kann hier nur  ein paar Dinge sagen, die ich daran bemerkenswert finde. Das Bild von Amina ist Ausdruck von Anspruch-erheben auf das eigene Bild, während das Bild von Amanda Todd das Gegenteil ist, Enteignung. Islamisten sehen ja in der Freizügigkeit westlicher Frauen genau das, die Frau zur Ware machen. Das ist aber mit Aminas Bild nicht möglich, während es im Falle von Amanda Todd in gewisser Weise zutrifft. Wobei das nicht ihr Umfeld oder sie selbst umdeuten kann, denn die Demütigung besteht im Reingelegt-werden und Kontrollverlust über das Selbstbild. Es wäre natürlich nicht so schlimm, wenn es nicht in einem Kontext einer Gesellschaft stattfände, die eigentlich eine Heidenangst vor diesem Mädchenbusen hat. Das sind für ein junges Mädchen ja auch absurd widersprüchliche Signale, einerseits wird sie nach ihrem Körper bewertet, und andererseits soll sie ihn eben nicht zeigen, jedenfalls nicht so.

Deluge: Diese Signale sind aber ja gerade der Ort, wo das Politische demonstriert werden kann, die Brüche. Kontextwechsel sind Umdeutungen, ob erwünscht oder unerwünscht.

Eva Schmidt: Ja, das ist ja auch wo Femen in der Ukraine angesetzt hat. Nur bei uns scheint mir das nicht zu funktionieren. Nacktheit als Protest dient hier nur dazu den Protest öffentlichkeitswirksamer zu machen, setzt aber keine Gedanken über Körperbilder und –verfügbarkeit in Gang. 

Deluge: Aber warum. Es wird ja selbstverständlich Selbstentblößung für Aufmerksamkeit, Job oder Liebe bezahlt. Nur wenn das so offen und naiv passiert, wie bei diesem Mädchen, geht es nicht. Es muss so getan werden, als mache das jemand nur für sich, nicht als direkte Bezahlung, sondern so ganz individuell. Individuell = frei. Und dann kommt es den Leuten normal vor. Das normale ist hier eben nicht die Religion, oder ein paternalistischer Staat, sondern der Markt. Und wenn man anderswo durch Individualismus der Norm entkommt, dann steckt hier gerade im Individualismus unsere Norm, die Marktlogik. Das Politische, die Normierung wird nicht mehr erkannt, weil man es für seine individuelle Entscheidung hält. Damit ist man dann erstaunlich wenig weit gekommen, was Emanzipation angeht.

Eva Schmidt: Das Mädchen kann dazu auch nichts mehr sagen.

Deluge: Du sollst deine Partialobjekte nicht zum Fenster raus schmeißen.

 

Eva Schmidt: Das reicht jetzt.

Deluge: Ja.

Deluge: Eva, Du erforschst im Rahmen Deiner Doktorarbeit die Unterschiede zwischen den Feminismen vor und nach der tunesischen Revolution. Vorher war Feminismus sozusagen ein Staatsziel der Diktatur. Wie haben Feministinnen da agiert?

Eva Schmidt: Feminismus war im eigentlichen Sinne kein Staatsziel der Diktatur, die beiden ‚Präsidenten‘ brüsteten sich allerdings tatsächlich damit „die tunesische Frau“ befreit zu haben. Die tunesischen Frauen selbst hatten dabei allerdings kein Mitspracherecht und weitergehende Forderungen wurden als Undank betrachtet. Diese „Emanzipation von oben“ diente der Legitimation gegenüber der eigenen Bevölkerung, wie auch dem Westen. Frauen sollten an Bildung und offiziellem Arbeitsmarkt teilhaben, weil dies als wesentliche Voraussetzung zur Modernisierung des Landes gesehen wurde, nicht um der Frauen willen. Überspitzt gesagt, „moderne Frauen“ – gebildet und ohne Kopftuch – hatten ähnlichen Repräsentationscharakter, wie eine neue Eisenbahntrasse. Die Rolle in der Familie als Mutter und Ehefrau blieb explizit unangetastet und wie der erste Staatspräsident betonte, war die öffentliche Teilhabe im Zweifelsfall nachrangig. Modernisierung an Frauenrollen zu messen ist übrigens ein weltweites Phänomen und schon die französischen Besatzer glaubten, Frauen seien der Schlüssel zur Gesellschaftstransformation. 

Mit der Zeit wurden Frauenrechte zudem immer mehr zu einem Mittel dem Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs zu begegnen. Zum einen kommen uns Frauen ohne Kopftuch westlicher vor und darum glauben wir eher, wenn der Präsident etwas von Freiheit und Menschenrechten erzählt. Außerdem konnte auf den Ausbau von Frauenrechten verwiesen werden, wenn mal wieder die Verbesserung der Menschenrechtslage angemahnt wurde. Gleichzeitig war die Bedrohung von Frauenrechten durch islamische Fundamentalisten immer ein gutes Argument dafür, dass ohne die Diktatur alles noch viel schlimmer wäre. 

Die Feministinnen die damals versuchten autonom Politik zu machen hatten also das Problem, dass sie einerseits vom Staat als Feigenblatt und für dessen Anti-Islamismus-Politik vereinnahmt wurden und andererseits immer behauptet wurde, es sei schon alles erreicht und man müsse schon sehr verrückt und undankbar sein noch mehr zu wollen. Die etablierten autonomen feministischen Organisationen  gingen aus einer Diskussionsrunde einer Kultureinrichtung hervor und viele ihrer Mitglieder sind Juristinnen, Sozialwissenschaftlerinnen etc. Wesentlicher Teil ihres Aktivismus war Forschung, alternative Menschenrechts-  und Frauenrechtsberichte und Lobbyarbeit. Aber durchaus auch praktische Aktivitäten wie Frauenhäuser etc. Obwohl die Presselandschaft nahezu gleichgeschaltet war, Kommuniqués und Berichte in Tunesien nicht gedruckt werden konnten, Konferenzen und Demonstrationen auf die eine oder andere Weise sabotiert wurden und sie daran gehindert wurden außerhalb der Hauptstadt zu agieren, konnten die Feministinnen doch an manchen Stellen Druck auf die Regierung ausüben. 

 

Zum einen gelang ihnen dies durch Kontakt zu internationalen Organisationen und Netzwerken, zum anderen über ihre Verbindung zu anderen linken Oppositionsparteien und Menschenrechtsgruppen, sowie vor allem die mächtige tunesische Gewerkschaft, die alle diese Gruppen schützte.

Deluge: Mit dem Wechsel von der Diktatur zur Demokratie entstanden ganz neue Protestformen und andere Akteure traten auf. Wie lässt sich dieser Kontrast beschreiben?

Eva Schmidt: Jetzt mit der Demokratisierung und der Euphorie über die mögliche Veränderung haben AktivistInnen nun ganz andere Möglichkeiten und individuellere Formen der Protest’kunst‘ florieren, Flashmobs, Performances, Selfies mit politischen Messages etc. Diese Gruppe von Aktivisten hat wenig Lust sich mit Konferenzen und Papieren herumzuschlagen und sie sehen ihr Ziel auch weniger in der Änderung von Gesetzen, sondern versuchen durch ihre öffentlichen Performances gesellschaftliche Denkprozesse in Gang zu bringen. Das ist natürlich jetzt sehr pauschal gesagt und die AktivistInnenszene ist noch mal diverser und verändert sich momentan auch ständig. Da das islamistische Projekt auf  eine ‚Gemeinschaft‘ angelegt ist, die ihnen als gleichmachend und gleichgeschaltet erscheint, sehen manche dieser Protest’künstler‘ auch in der einzelnen Aktion, dem einzelnen Kunstwerk schon Widerstand, indem es Individualität bewahrt und sich der Unterordnung und Integration in eine islamische Gemeinschaft widersetzt.

Deluge: Wo waren die früher? Ich meine, dieselben Leute waren ja vor der Revolution auch schon da. Gab es solche Protestformen gar nicht?

Eva Schmidt: Das tunesische Überwachungsregime war einfach unheimlich dicht. Viele junge Tunesier und Tunesierinnen waren schon im Internet aktiv und dort auch durch einzelne mutige Blogger, Musiker etc. politisiert. Aber eine andere Öffentlichkeit gab es kaum. Die Presse- und Medienlandschaft war weitgehend gleichgeschaltet und die wenigen unabhängigen AktivstInnen wurden kontrolliert und eingeschüchtert. Die autonomen Feministinnen erzählten mir zum Beispiel wie ihre Demonstrationsversuche von der Polizei noch im eigenen Vorgarten gestoppt wurden.

Deluge: Dann ist jetzt die Repression nicht mehr so schlimm?

Eva Schmidt: Ja, die Repression ist auf jeden Fall zurückgegangen. Das merkt man schon daran, dass inzwischen sehr viel in der Öffentlichkeit und auch mit Unbekannten über Politik diskutiert wird. Immer wieder werden aber auch noch die alten Polizeitaktiken angewendet, zum Beispiel gegen soziale Unruhen. Mir scheint auch, dass die Liberalisierung stärker für die „konventionellen“ Protestformen wie Konferenzen und Demonstrationen gilt, während Kunst und individuelle Protestformen weniger akzeptiert sind. So wurden Musiker zu Gefängnisstrafen verurteilt oder eine Kunstaustellung zerstört. Letzteres nicht vom Staat selbst, sondern von religiösen Fundamentalisten, der Religionsminister zeigte jedoch Verständnis für die Zerstörer.

 

Die etablierten AktivistInnen können durch ihren Protest und ihre Lobbyarbeit eine direkte Wirkung auf Gesetztesvorhaben erzielen. Sie sind aufgrund ihres gesellschaftlichen Status besser geschützt, aber eben auch immer schon eingebunden. Die ‚jungen‘ AktivistInnen bewegen sich außerhalb des etablierten Bereichs und schockieren damit mehr, aber sie haben auch eine weniger spezifische Wirkungsabsicht.

Deluge: Auch in Tunesien sind die Islamisten politisch sehr stark. Gibt es bei ihnen auch Feministinnen?

Eva Schmidt: Kommt drauf an wen man fragt. Es gibt Frauen, die im islamischen Recht nach der für Frauen bestmöglichen Auslegung suchen. Sie bezeichnen sich als Frauenrechterlerinnen oder als Feministinnen, manche auch als konservative Feministinnen. Man kann ein solches Projekt als emanzipativ sehen, weil Frauen Autorität in der Rechtsauslegung beanspruchen und in ihrem Selbstverständnis Gott gehorchen, nicht den Männern. Und sie verbessern den Status von Frauen in ihrer Gemeinschaft. Aus Sicht der Linken und Liberalen ist das Ganze allerdings nur reaktionär und antifeministisch, weil Gleichstellungspolitiken auch an religiösen Interpretationen gemessen werden. 

Deluge: Angesichts der Freude des Protests dort und eines angeblichen Postfeminismus hier: Ist die Ästhetik des Feminismus zu lasch, um noch jemanden zu rühren oder ist der Geschmack zu ausdifferenziert, um Inhalte ernst zu nehmen?

Eva Schmidt: Die Frage steht mir jetzt zu weit offen.

Deluge: Ich habe letztes Jahr leider den Besuch im Barbie Dreamhouse Experience verpasst, deshalb musste ich mir das nachher im Netz anschauen. Da gab es einen lustigen Bericht, wo zuerst einige Aktivistinnen gefilmt wurden, sehr bunt und individuell, aber chancenlos gegen das Barbiehaus. Die sagten sinngemäß, sie wollten authentische Kinder vor unrealistischen Spielsachen schützen. Und dann halt die Sache mit dem Sexismus. Dann kam eine österreichische Touristin, vielleicht zwanzig, die kam gerade aus dem Barbiehaus getreten und wurde, sozusagen noch ganz frisch experienced, befragt, ob es da drin nicht etwa sexistisch sei. Sie meinte, finde sie gar nicht, sei alles ganz lieb und nett, nur ein bisschen was mal mit Strand und Bikini, aber gar nicht schlimm.

Eva Schmidt: Sie hat den Begriff gar nicht verstanden.

Deluge: Sie meinte wohl es hat was mit Sex zu tun.

Eva Schmidt: Ja klar. Und gleichzeitig ist Feminismus inzwischen ja auch ein komplexer, ausdifferenzierter Diskurs, dass es richtig Arbeit ist sich damit zu beschäftigen. Was davon dann manchmal so im Mainstream landet, die ganzen Aspekte und Spezialprobleme, das wirkt dann für Außenstehende oft absurd und besonders abschreckend. Feministinnen wiederholen die Grundlagen für die ‚neue Generation‘ ja auch immer wieder. Gleichzeitig halte ich aber auch die Weiterentwickelung in all ihren spezifischen Formen für wichtig. 

Wir können ja nicht einfach am Anfang stehen bleiben und darauf warten, dass alle mitkommen. Aber Diskriminierung ist ja auch nichts Abstraktes, über deren Existenz Menschen nur in Büchern lesen. Sie erleben sie ja immer wieder, nur müssen sie erkennen, dass es sich dabei eben nicht um ihr persönliches Problem handelt, sondern um ein gesellschaftliches Problem. 
 

 
 
Eva Schmidt war im Gespräch mit Fabian Ginsberg