The Feminist Four
von Kai Hoelzner
Ihre Nippel sind nur mit einem winzigen Stückchen Stoff bedeckt, die silberfarbene Glitzer-Perücke hängt ihr ins Gesicht, während ein Mann in einem Penis-Kostüm neben ihr die Hüften schwingt: Wenn Miley Cyrus auf die Bühne geht, dann wird es immer schrill und plakativ. Dieser Auftritt am Donnerstagabend war trotzdem etwas Besonderes: Die 22-Jährige durfte auf einer Eröffnungsparty zur renommierten Kunstmesse Art Basel Miami Beach singen. “Ihr habt wohl gedacht, die Art Basel sei ein anständiger Ort, wo ihr mir entkommen könntet”, rief sie selbstironisch in die Menge. Dann erzählte sie, dass sie nach einem schwierigen Jahr die Kunst für sich entdeckt habe und zündete sich auf der Bühne einen Joint an.
(Der Stern, 5. Dezember 2014)
Andrea Fraser betritt die Bühne. Sie geht einige Schritte, setzt sich auf einen leeren Stuhl in der Bühnenmitte und stellt ihren Kaffeebecher auf den Boden. Dann lehnt sie sich zurück und wartet.Es ertönt eine kurze Anmoderation, gefolgt von ein paar Takten aus John Lennons Working Class Hero. „When they’ve tortured and scared you for 20 odd years, then they expect you to pick a career.“ Fraser verharrt in ihrer Sitzhaltung und lauscht. Es folgt ein knapp dreiminütiger Ausschnitt aus einem Radiogespräch zwischen zwei Feministinnen, Judy Chicago und Isabel Welsh, das ein paar Tage vorher auf KFPK ausgestrahlt worden war. Chicago hatte 1970 das Feminist Art Program am Fresno State College gegründet, ein Jahr darauf das Los Angeles Council of Women Artists und das Feminist Art Program an der CalArts.
Eine Woche vor Ausstrahlung des Radiogesprächs mit Isabel, aus dem der Einspieler für diese Sendung entnommen wurde, nämlich am 30. Januar 1972, hatte die von Judy Chicago mit organisierte erste feministische Kunstausstellung „Womanhouse“ in Hollywood eröffnet. Isabel Welsh ist zum Zeitpunkt des Gesprächs Studentin der politischen Wissenschaften an der UCAL. Nebenher tritt sie mit Menstural Shows auf und produziert für den Radiosender KPFK Beiträge und Interviews zum Thema Feminismus. Wir befinden uns also an einem höchst realen Ort in der Geschichte des Frauenbewegung wie der Geschichte der Kunst gleichermaßen.
„What we are talking about is the emerging of stereotypes we have internalized for ourselves. And moving into it we are becoming actresses…“ und „The reference for that is not men, the reference for that is ourselves.“
„Men on the Line: Men Committed to Feminism, KPFK 1972“ ist ein straightes Reenactment einer Radiodiskussion zwischen vier männlichen Feministen und aktiven Supportern der Frauenbewegung, die im Februar 1972 auf dem kalifornischen Hörer-finanzierten Radiosender KFPK (einer Art progressivem Bürgerradio mit kulturell-politischem Schwerpunkt) ausgestrahlt wurde. Die Teilnehmer sind Bob Keneger, „a man living in Inglewood“, der Psychologe Lee Chrismier, der Soziologe Jeremy Shapiro vom California Institute of the Arts und als Moderator Everett Frost, der wie Isabel Welsh aus dem Off-Einspieler Kultur-Sendungen für KPFK produziert.
Sämtliche männliche Teilnehmer werden durch Andrea Fraser dargestellt, wobei Fraser die stimmlichen, gestischen und mimischen Eigenheiten der vier Sprecher eher skizzenhaft und keineswegs overactet darstellt. Die Sitzordnung der Gruppe wird lediglich durch die Blickrichtungen Frasers klar. Alles, was passiert, ereignet sich face to face mit dem Zuschauer.
„Men on the Line“ wurde bereits mehrfach aufgeführt, unter anderem 2012 im Museum of Modern Art und 2013 im Kölner Museum Ludwig. Bereits der Titel der Performance deutet an, dass Interpretationsbedarf besteht. „On the line“ muss gleichermaßen gelesen werden als „an der Strippe haben“ wie als „auf dem Spiel stehen“. Und so, wie es den Männern auf der Bühne geht, geht es auch den BesucherInnen in der Volksbühne. Bob, Lee, Jeremy und Everett haben es aus unterschiedlichen Gründen nicht leicht mit dem Feminismus. Alle vier sind intellektuell geprägt und haben einen jeweils eigenem Zugang zum Thema. Vor allem: Alle vier sind, da es sich um das Reenactment einer Radio-Diskussion handelt, reale Personen mit realen Biografien. Mindestens drei, wahrscheinlich aber alle vier sind akademisch gebildet, politisch interessiert und verkörpern klar erkennbare Positionen mit jeweils eigenen, berufs- oder erfahrungsspezifischen Zugangs (psychologisch, soziologisch, politisch, medienkritisch). Die Diskussion findet auf hohem Niveau statt, jeder versucht sein Bestes zu geben und ist vollkommen aufrichtig. Es gibt keinen einzigen sarkastischen Moment, keinerlei Zweifel an der Berechtigung feministischer Forderungen.
Beherrschendes Thema der ersten Hälfte der Diskussion ist das Gefühl und das Bewusstsein davon, als Mann in Fragen des Feminismus prinzipiell ausgeschlossen ist. Ein Gefühl, das als besonders misslich empfunden wird, da alle vier Männer sich wünschen, sich stärker engagieren und eigene Fehler oder Chauvinismen, die ihnen eventuell nicht bewusst sind, erkennen und ändern zu können. Und das, kann man sich denken, ist nicht leicht. War es 1972 nicht und ist es, so wird einem schon nach wenigen Momenten klar, heute immer noch nicht.
Während Bob seinem Temperament entsprechend am unauffälligsten dargestellt wird, ist der Psychologe Lee entsprechend seinen eher zupackenden und einige Male stereotyp-männlichen Äußerungen mit den machohaftesten Gesten ausgestattet, keinesfalls aber so, dass seine Rolle von Fraser karikiert würde. Der Soziologe Jeremy wirkt am sensibelsten und argumentiert auch von allen Teilnehmern am vorsichtigsten, während Everett als Moderator sich einerseits als vierter Diskutant engagiert, andererseits bemüht ist, den Diskussionsverlauf im Auge zu behalten und das Gespräch wo nötig zu moderieren.
Ziemlich bald wird im Publikum in der ausverkauften Volksbühne gelacht über diese Männer und ihre Probleme mit dem Feminismus. Feminist zu sein ist für Männer kein leichtes Unterfangen. Sich ausgeschlossen fühlen. Ja, auch sich schuldig fühlen, obwohl man doch gar nicht schuldig ist, sondern vielmehr auf der Seite der Frauen steht. Schockiert sein über das wahre Ausmaß der Frauenfeindlichkeit in der Gesellschaft. Und frustriert bei dem Gedanken, an diesen falschen Verhältnissen
nicht ganz unschuldig zu sein. Dann aber auch bemerken, dass Frauen nicht die einzige Bevölkerungsgruppe sind, deren Rechte es zu verwirklichen gilt. Mann möchte auf gleicher Augenhöhe mit den Frauen leben, was Psychologe Lee dann in der dritten Ehe auch endlich geschafft hat. Zum Beispiel ja die Sache mit dem Abwasch. Aber auch das Gefühl haben, man müsste den Frauen helfen beim Thema Feminismus. Dass das mal etwas energischer betrieben wird. Und jedem der auf der Bühne durch Fraser dargestellten Männer ist in diesem Moment klar sein, dass das nicht ganz das ist, was die Frauen wirklich wollen. Dass da mal einer breitbeinig vorangeht und ein paar Missverständnisse ausräumt. Doch der Feminismus hat auch seine guten Seiten. Schließlich ist es ja auch für Männer ganz schön hart, die ganze Zeit in der Verantwortung zu stehen. Das Geld ranzuschaffen. Immer unter dem Druck solcher Erwartungen zu stehen. Das ist ja letzten Endes auch für Männer angenehm, wenn das alles mal neu ausgehandelt wird.
Wenn man es wiedererzählt, klingt das alles ziemlich lächerlich. Auf der Bühne war es das nur teilweise, aber gelacht wurde trotzdem viel in der Volksbühne. Wobei Lachen in diesem Zusammenhang spürbar eine Sache des Affektes ist. Denn so ziemlich den gleichen Schwachsinn hat jede/r schon hundertmal gehört und – zumindest als männlicher Zuschauer – wahrscheinlich auch schon öfters selber erzählt. Das inhaltlich brutale an Frasers Reenactment ist die traurige Feststellung, dass es, egal ob man es anekdotisch, soziologisch, psychologisch, politisch oder medienkritisch hört, beim Feminismus irgendeine Aporie zu geben, die das
Nachdenken und Sprechen darüber für Männer extrem schwer macht. Weil sie tatsächlich ausgeschlossen sind. Was schwer zu ertragen ist, dass es da mal nichts zu helfen gibt und nichts zu meinen. Dass Mann an dieser Stelle zunächst mal einfach nicht gefragt ist und auch nicht sein kann. Dass jede Einmischung, ja jede Selbstbetitelung wie ‚male feminist‘ oder ‚active supporter of the women’s movement‘, so gut gemeint sie sein mag, bereits etwas Übergriffiges hat.
Bei den seit Ende der 1980er Jahre von Fraser entwickelten Solo-Performances handelte es sich lange Zeit um Reenactments oder In-Situ-Performances, die in Galerien oder Museen aufgeführt und in der Regel auch als Video-Edition veröffentlicht wurden. Von Museum Highlights: A Gallery Talk (1989), May I Help You? (1991) bis zu Kunst muss hängen (2001) arbeitete Fraser dabei vorwiegend institutionskritisch. Kennzeichnend für ihre performativen Arbeiten ist bereits seit den ersten Performances, dass das Publikum nie außerhalb des Geschehens bleibt, sondern in einem Modus passiver Partizipation ungewollt Teil der Performances wird. Als Eröffnungsrede, Museums-Führung oder durch direktes Ansprechen und Ins-Gespräch-Verwickeln der BesucherInnen durch eine von ihr dargestellte Galerieassistentin lässt Fraser den RezipientInnen keine Möglichkeit, sich außerhalb des Performance-Kontextes zu stellen und nur BetrachterIn zu sein. Und so bleibt den BesucherInnen auch beim Reenactment dieser Radio-Diskussion keine andere Wahl als mitzuspielen und die damaligen ZuhörerInnen ebenfalls zu reenacten. Daraus ergibt sich, dass ich als Zuhörer lache und mich als Zuschauer beim Lachen
selbst beobachten kann, da ich außerdem ja noch persönlich anwesend bin. Es findet dabei eine sofortige Verschiebung auch in der Wahrnehmung der übrigen ZuschauerInnen statt: Ich erkenne die eigene Verstrickung in die Performance und sehe sie bei den anderen. Und ich sehe, wie bei ihnen die gleichen Reflexionsprozesse ablaufen, wenn sie spontan lachen und damit in die Fiktion eintauchen und ein paar Bruchteile von Sekunden später ebenso feststellen, dass sie in diesem Moment Teil der Performance werden und anfangen, sich – und mich – daraufhin zu beobachten.
Bereits seit ihren ersten Solo-Performances war zu beobachten, wie Andrea Fraser immer drastischere Mittel anwandte, um die Partizipation der BesucherInnen zu erzwingen und sie in einen Zwischenraum zwischen sich selbst und der Performance zu ziehen. Etwa wenn sie eine Rede des noch nicht lange verstorbenen Martin Kippenbergers in der Galerie Christian Nagel vor einem Publikum wiederaufführt, das mit Kippenberger mehrheitlich bekannt wenn nicht freundschaftlich verbunden war. Fast immer bedeutet das für die RezipientInnen, schon durch das Setting der Performance verstrickt zu werden, ohne dabei aktiv eingreifen zu können (wenn man mal von der Möglichkeit des Störens oder des Verlassens des Raumes absieht). Die Anstrengungen, die BetrachterInnen in die Performance zu integrieren, ohne ihnen aber Handlungsspielräume zu eröffnen und sie eine bestimmte Situation damit buchstäblich erleben und im Zweifelsfall auch erleiden zu lassen, wurde von Fraser über Jahre immer weiter inteisiviert und gipfelte 2003 zunächst in der
Videoperformance „Untitled“, einer einstündigen Arbeit, die nichts anderes zeigt als einen realen Geschlechtsakt der Künstlerin mit einem anonymen Kunstsammler in einem Hotelzimmer. Der Sammler hat für die Summe von 20.000 Dollar eine Videoperformance erworben, an deren Entstehung er selbst mitgewirkt hat. Wer das Video in einer Ausstellung sieht, wird mit nichts anderem konfrontiert als dem eigenen voyeuristischen Interesse an der Person der Künstlerin und den Fragen und Mutmaßungen darüber, was da für 20.000 Euro erworben wurde und was mit dieser Arbeit über das Verhältnis von Kunst, Geld und Prostitution gesagt wird.
Fraser gehört zu den KünstlerInnen, die gleichermaßen theoretisch wie praktisch arbeiten, wobei sich ihre theoretischen Schriften nicht zuletzt aus ihrer eigenen künstlerischen Praxis speisen, während ihre Performances mehr als nur mittelbar aus Theorien schöpfen, etwa, wenn Sie aus Textfragmenten aus Pierre Bourdieus „Feinen Unterschieden“ das Skript für die Performance „May I help you“ collagiert. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist bei Fraser radikaler und produktiver formuliert als bei den meisten ihrer ZeitgenossInnen. Der Umstand, dass ihre Arbeiten die BesucherInnen in eine Partizipationsfalle zwingen, der sie, wenn überhaupt, nur durch Reflexion entkommen können, ist geradezu ein Alleinstellungmerkmal Frasers. Sieht man Frasers Performance in der ausverkauften Volksbühne, fällt einem – bei allen Unterschieden zwischen beiden – allenfalls noch Christoph Schlingensief als ein Künstler ein, der ein vergleichbares Interesse an der Arbeit mit dem Publikum hatte und die Rolle der ZuschauerInnen konsequent in
seinen künstlerischen Strategien berücksichtigte. Im Gegensatz aber zu Schlingensief, der während der Documenta die Türen verrammeln ließ, um vor einem verstörten Publikum sein ‚Tötet Helmut Kohl’ zu skandieren, muss Fraser nicht mal die Klinke berühren, um eine weit tiefere Verstrickung der BesucherInnen zu erzeugen.
Bemerkenswert an „Men on the Line“ ist der Umstand, das die wenige Tage vor der Aufführung in der Volksbühne produzierte Video-Performance diese Wirkung gegenüber der Live-Version noch wesentlich steigert. Wie auf der Bühne sitzt Fraser auch hier in einem leeren (schwarzen) Raum und spricht alle Rollen aus einer fixen Position auf dem Stuhl sitzend. Die Projektion in der Galerie ist dabei so angelegt, dass Fraser lebensgroß vor den BesucherInnen sitzt und dieser auf einem der im Halbkreis aufgestellten Stühle permanent direkten Augenkontakt mit der Künstlerin hat. Was dazu führt, dass man sich nach wenigen Momenten schon in einen – oder mehrere! – der Mitdiskutanten verwandelt und als solcher direkt von Fraser angesprochen wird.
Der Umstand, dass Andrea Fraser ihren Körper und ihre Stimme vier verschiedenen Männern zur Verfügung stellt, um durch sie hindurch eine Studiodiskussion aus dem Jahr 1972 zu sprechen, wirkt in der Abgeschiedenheit des Galerieraums geradezu verstörend. Und führt schon durch die Sitzordnung dazu, dass man zwangsläufig die Rollen der übrigen drei Teilnehmer einzunehmen beginnt. Als männlicher Besucher
wird man das vermutlich gänzlich anders erleben, weil einem, wie eingangs beschrieben, die männlichen Meinungen, Reflexionen und Erfahrungen mit dem ‚Problemkomplex’ auch vier Jahrzehnte später noch sehr vertraut sind. War man in der Volksbühne noch Teil eines fiktiven Talk-Show-Publikums, so sitzt man in der Galeriesituation mehr als nur in der ersten Reihe.
Anders als bei der Bühnen-Fassung schiebt sich in der Video-Performance das Moment der Projektion zwischen Künstlerin und Zuschauer. Kaum zwei Schritte vor der lebensgroßen Projektion Frasers sitzend entsteht binnen Sekunden eine Art Rückkopplung. Indem sich die Künstlerin – ihr Gegenüber nicht aus dem Auge lassend – immer wieder in die nächste und wieder die nächste männliche Rolle schlüpft, setzt zwangsläufig ein Prozess ein, der die ZuschauerIn in das Geschehen hineinzieht und sie diejenigen Rollen übernehmen lässt, die die Künstlerin im lebensgroßen Video direkt vor ihr soeben verlassen hat. Ziemlich schnell hat sich die RezipientIn selbst auf diese Weise mehrmals in jeder einzelnen dieser unsichtbaren, von Fraser dargestellten männlichen Figuren befunden. Bedingt durch ihr ansatzloses Umschalten zwischen den vier Rollen, den dabei vollzogenen Tausch der Geschlechterrollen und nicht zuletzt durch die vollkommen offene Frage, ob wir es bei den durch Fraser ins Hier und Jetzt gechannelten Männern mit Beschuldigten oder mit Opfern zu tun haben, hat „Men on the Line“ eine Fülle von Parallelen zu Akira Kurosawas Film „Rashomon“ und verleiht der Performance streckenweise eine fast gespenstische Wirkung.
Als ‚Aneignung durch Einverleibung’ hat Isabel Graw dieses Vorgehen Frasers in Bezug auf ihre Darstellung Martin Kippenbergers in „Kunst muss hängen“ bezeichnet (Graw: Die Bessere Hälfte, Köln 2003). Dieser Einverleibung des verstorbenen Künstlerkollegens in einer Performance wird in „Men on the line“ in ein komplexes Spiel von Projektionen und Übertragungen überführt, bei dem sich nicht nur die Künstlerin eine Rolle einverleibt, sondern die ZuschauerInnen in der Folge zu permanenter Projektion und Übertragung ihrer eigenen Emotionen auf die von Fraser repräsentierten Akteure der Talkrunde zwingt. Dies ist um so verwirrender, als dass die ZuschauerInnen dabei fortwährend in mehrere Rollen hineinzufallen gezwungen werden. Ich bin ich und zugleich Bob, Lee, Jeremy oder Everett, und möglicherweise auch mehrere zur gleichen Zeit.
Den Schritt, sich nicht mehr nur (männliche) Positionen einzuverleiben, sondern die BesucherInnen einem Performance-Geschehen auszusetzen, das seit „Kunst muss hängen“ und „Untitled“ sowohl Geschmacksgrenzen überschreitet, als auch psychologische Abwehrmechanismen unterläuft, wurde von Fraser am bislang explizitesten in ihrer 2009er Videoperformance „Projection“ in der Galerie Friederich Petzel vollzogen. Dort fungierte als Ausgangsmaterial einer Video-Performance eine Transkription Frasers eigener Sitzungen bei ihrem Psychoanalytiker, die dialogisch in einer 2-Kanal-Videoinstallation auf zwei gegenüberliegende Screens projiziert wurde und die BetrachterIn buchstäblich in die Mitte nahm und zum integralen Teil der Video-Performance werden ließ.
Bei „Men on the Line“ ist dieser Übergriff auf die BesucherInnen noch deutlich intensiver zu spüren. Anstatt die BesucherIn technisch in die Zange zu nehmen, nutzt Fraser den Willen der BesucherInnen zu Einfühlung und intellektueller Auseinandersetzung mit dem Bühnengeschehen aus, um ihnen exakt jene Rolle aufzuzwingen, die sie selbst auf der Bühne ausfüllt. Anders als bei „Untitled“ oder „Kunst muss hängen“ ist es nicht mehr der Tabubruch, mit dem Fraser die Abwehrmechanismen der BesucherInnen gegen den Übergriff unterläuft, sondern die Komplexität des Geschehens, das sie stets ein paar Momente hinterher hinken lässt.
Waren die Appropriationsstrategien bei Fraser bereits in der Vergangenheit bereits komplex angelegt, installiert sie mit „Men on the Line“ eine nicht endende Abfolge von Verwandlungen, an deren Beginn ihre eigene Person steht, die aber im Verlauf der Performance Publikum, Raum, Material und schließlich den Kunst-Begriff selbst erfassen. In gleichem Maße, wie sie sich in der Arbeit in eine Reihe von Männern verwandelt, verwandelt sich die Talkshow und damit das Performance-Geschehen in eine gruppentherapeutische Sitzung und setzt damit einen Prozess in Gang, der auch den Zuschauer erfasst. Theorie verwandelt sich hier in die Praxis realen Erlebens und setzt eine Kettenreaktion von Ereignissen in Gang, an deren Ende die Rückverwandlung von Kunst in etwas Soziales und Politisches steht.
Hier erhellt sich die Entscheidung, für das Ausgangsmaterial der Performance bis ins Jahr 1972 zurückzugehen (eine Frage, über die am Abend nach der Volksbühnen-Performance von mehreren BesucherInnen diskutiert wurde, ohne dass sich die Motivation und Bedeutung des historischen Rückgriffs abschließend klären ließ). 1972 war nicht nur die ‚Hochzeit’ des Feminismus, sondern zugleich auch jenes Jahr, in dem das in den späten 60ern formulierte Konzept der sozialen Plastik auf der Documenta 5 weltweite Bekanntheit erlangte.
“Men on the Line: Men Committed to Feminism, KPFK 1972″ fand am 28. November 2014 als Bühnen-Performance in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und ist als Video- Performance noch bis zum 24. Januar 2015 in der Galerie Nagel-Draxler, Weydingerstr. 2/4 in Berlin zu sehen.